Erfahrungsbericht einer DBIS-Schülerin

Die ersten vier Schuljahre meines Lebens habe ich - ganz traditionell - an der örtlichen Grundschule absolviert. In der 1. Klasse bin ich noch gerne zur Schule gegangen, danach eher nicht mehr. Das einzige was mir in der ganzen traditionellen „Schullaufbahn“ immer und jederzeit gefallen hat, waren Pausen und Ferien. Na ja, wie es eben so ist … Über meine Schulsituation war ich damals ziemlich unzufrieden.

Aus dieser Unzufriedenheit heraus wurde das pädagogische Konzept „Uracher Plan“ für mich und meine Eltern sehr attraktiv, denn es versprach viele Vorteile: Lernen unter Mitbestimmung der Schüler, der Unterricht ist auf die individuellen Bedürfnisse des Kindes ausgerichtet, kein „Unterricht von der Stange“, mehr Flexibilität, da „Lernen“ nicht an Zeit und Ort gebunden ist und vieles mehr. Für mich war klar, dass ich bei diesem Konzept dabei sein wollte - es war einfach das Richtige für mich. Besonders wertvoll für mich ist, dass ich in diesen Jahren gelernt habe, mir selbstständig Wissen anzueignen und zwar nicht nur, um es bei einer Klassenarbeit wieder „auszuspucken“, sondern fürs Leben. Schließlich lernt man nicht für die Schule…  Aber mit Tests komme ich auch klar: Meine Abschlussprüfung Realschule habe ich zur gleichen Zeit wie meine Gleichaltrigen abgelegt. Nun möchte ich aber gerne erzählen, wie das Lernen und Leben mit dem Uracher Plan überhaupt so war.
 
Mein gewöhnlicher Tag begann um 7:00 Uhr damit, dass ich unsere zwei Pferde und zwei Hunde versorgte. Nach dem gemeinsamen Frühstück mit der Familie, setzte ich mich meistens dann um 9:00 Uhr an meinen Schreibtisch und begann meine Schulaufgaben zu erledigen. Was an diesem Tag zu erledigen war, war von Tag zu Tag verschieden. Ich arbeitete nicht nach einem bestimmten Stundenplan – jetzt eine Stunde Mathe, dann EWG, dann Deutsch usw. – sondern einfach an dem, was gerade wichtig war. Am vorherigen Tag hatte ich z.B. gemerkt, dass ich im Bereich der Bruchgleichungen Schwierigkeiten hatte, also arbeitete ich daran. Oder: In zwei Tagen sollte ich eine Präsentation am wöchentlichen Schultag halten, also bereitete ich mich auf diese Präsentation vor.

Mein „Unterricht” sah nicht so aus, dass ein Lehrer vor mir stand und mich unterrichtete. Meistens arbeitete ich an einem Projekt, aus dem sich dann vielfältige Lernwege entwickelten. So beschäftigte ich mich z.B. mit Luis Braille, dem Erfinder der Blindenschrift. Ich las ein Buch über ihn und recherchierte im Internet. Dann schrieb ich eine Biografie über ihn. Anschließend stellte ich meine Ergebnisse mittels einer Präsentation meinen Mitschülern und Lernbegleitern vor. Später interessierte ich mich z.B. sehr für Indianer. Ich las sehr viel dazu, recherchierte, und schrieb danach auch wieder viele Seiten darüber, wie die Indianer gelebt hatten, welches die verschiedenen Stämme waren, wie sich ihre Lebensweise mit der Ankunft der Weißen verändert hatte usw. Alleine schon für eine Hausarbeit zum Thema „Die Indianer Nordamerikas in den Reservaten” schrieb ich 15 Seiten. Während ich an solchen Themen arbeitete, lernte ich lange Aufsätze zu schreiben, z.B. darüber, wie es bei der Entdeckung Amerikas so war. Eine Zeit lang schrieben ich und meine Geschwister einmal in der Woche ein Diktat, das uns von meiner Mutter diktiert wurde. Einmal in der Woche trafen wir älteren Schüler uns per MyAcademy, der Internetplattform der DBIS, zum gemeinsamen Deutschunterricht. Dort beschäftigten wir uns mit Lyrik, mit den verschiedenen Epochen und wie man eine Gedichtinterpretation schreibt. Im Hinblick auf die Mittlere Reife schrieb ich auch Kurzgeschichteninterpretationen. Die Anleitung dazu hatte ich aus einem Schulbuch und aus dem Internet. Diese Interpretationen gab ich anschließend zwei Lehrerinnen der DBIS zum Lesen zwecks Rückmeldung und Entwicklungspotential. Für die Prüfung legte ich mir auch ein Kompendium zum Thema „Das Glück in der Fremde suchen? – Gehen oder bleiben?” an. Zu diesem Thema schrieb ich Zeitungsartikel, Vorträge, Blogeinträge oder Texte für eine Broschüre. Die Aufgabenstellung bekam ich aus einem Schulbuch. Diese Texte haben dann meine Lernbegleiter gelesen und mir Feedback gegeben darüber, was sie gut bzw. nicht so gut fanden. Auch andere Dinge, wie z.B. Geschichtsthemen, habe ich oft nicht nur aus einem Schulbuch heraus gelernt, sondern auch indem ich viele Bücher mit historischem Hintergrund las. Das waren z. B. „Caius der Lausbub aus dem alten Rom”, „Cleopatra”, „Meine kleine Farm (Serie)”, „Sitting Bull”, „Die Roten Matrosen”, „Als Hitler das Rosa Kaninchen stahl“, „Das Tagebuch der Anne Frank“, 2Onkel Toms Hütte“, „Sie versprachen uns die Zukunft”, und viele Bücher mehr, durch welche ich viel über die damalige Zeit erfuhr. Indem ich mich über ein spannendes Buch mit der Materie vertraut machte, vergaß ich die Dinge auch nicht so schnell wieder. Gerne schaute ich mir aus der ZDF-Mediathek Dokumentarfilme an, z.B. über Hildegard von Bingen, Martin Luther, Napoleon, Otto von Bismarck, Gustav Stresemann und die Weimarer Republik. Thematische Filme, wie z.B. „Operation Walküre – das Stauffenberg Attentat“ oder „Der Untergang“ sah ich auch an. Aus dem 2. Weltkrieg gab es noch Briefe von meinem Urgroßvater, der wegen Widerstand gegen das Nazi-Regime von der Gestapo abgeholt wurde. Die Briefe sind jedoch alle in altdeutscher Schrift geschrieben. Ich wollte diese Briefe gerne lesen, also habe ich aus dem Internet eine Tabelle des Alphabets ausgedruckt, und erst einmal geübt indem ich Gedichte schriftlich in altdeutsche Schrift übertragen habe. Dann habe ich angefangen, die Briefe meines Urgroßvaters zu lesen, und habe sie nebenher am Computer in die heutige deutsche Schrift umgeschrieben. Diesem „Umschreiben“ verdanke ich, dass ich heute gut und schnell mit der Tastatur schreiben kann. Für mich waren die Briefe sehr interessant zu lesen und ich habe einiges über die damalige Zeit und die alltäglichen Sorgen und Nöte der Menschen erfahren! Auf dieser Art und Weise habe ich mich mit vielen Themen, die mich interessiert haben, sehr intensiv auseinandergesetzt und viel darüber gelernt. Wenn man sich aber selbst und aus eigenem Interesse hinsetzt und damit beschäftigt, hat man am Ende des Tages richtig viel über ein Thema gelesen und mitbekommen. Und was mir dabei auch wichtig ist: Man hat keinen „Filter“ und keine Denkverbote. Man kann „quer Beet“ recherchieren ohne ein vorgekautes Denkmuster eines (Be-)Lehrers.

Für Mathematik habe ich oft ein Arbeitsheft benutzt, das man in der Regelschule auch kennt und nutzt. Jedes neue Thema war im Buch erklärt, anschließend konnte ich Übungsaufgaben durcharbeiten. Ein Jahr lang hatte ich zum Schulbuch eine Tutorial-DVD, in welcher mir etwas Neues erklärt wurde. Wenn ich Schwierigkeiten hatte etwas zu verstehen, suchte ich im Internet nochmals nach einer Erklärung oder einem Videoclip, oder ich fragte meine Lernbegleiter. Hier möchte ich noch gerne sagen, dass meine Eltern keine „Lehrer” sind, die mir „Unterricht” gaben, sondern es ist so, dass ich immer versucht habe, selbstständig zu lernen und nur, wenn ich nicht weiterkam, die Eltern oder Lernbegleiter hinzuzog. Die „Lehrer” an der DBIS haben die Aufgabe zu unterstützen, statt zu unterrichten, deshalb nenne ich sie in diesem Sinn nicht Lehrer, sondern Lernbegleiter.

Da meine Mutter aus Kanada kommt, ist Englisch meine Muttersprache. Mit meiner Mutter sprechen meine Geschwister und ich immer Englisch und schauen Filme fast nur in dieser Sprache an. Auch lese ich viele Bücher in Englisch. Fast jedes Jahr gehe ich nach Kanada, um meine Großeltern und Verwandten zu besuchen. Dadurch hatte ich die Möglichkeit, ein anderes Land intensiv kennen zu lernen. So habe ich z.B. über mehrere Jahre hinweg jeweils immer für ein paar Wochen an einer kanadischen Schule hospitiert, habe damit mein Englisch sehr verbessern können und habe neue Freunde gewonnen und Erfahrungen gesammelt. „Blick über den Tellerrand“ und „Horizonterweiterung“ kann man das auch nennen. Mit englischsprachigen Freundinnen und Verwandten schreibe ich immer noch regelmäßig E-Mails oder Briefe und skype gelegentlich. 

Für NWA (Naturwissenschaftliches Arbeiten) habe ich ein englischsprachiges Programm aus dem Internet “timeforlearning” für Biologie benutzt. Aber auch hier haben sich im alltäglichen Leben viele Möglichkeiten ergeben, durch welche ich über Biologie etwas lernen konnte. Einmal hatten wir z.B. von unserer Hündin zehn Welpen. Bei diesem Anlass erklärte mir mein Vater als Landwirtschaftsmeister und passionierter Züchter zum ersten Mal die Mendelschen Regeln der Vererbungslehre. Nebenbei erklärte er mir, wie man einen Kaufvertrag abschließt, weil es dann in einigen Wochen darum gehen würde, die Welpen zu verkaufen. Im Garten habe ich gelernt, Pflanzen groß zu ziehen. Eine Zeit lang arbeitete ich mit zwei Mitschülerinnen der DBIS am Thema “Verdauung”. So haben wir dieses Thema während der Woche bearbeitet, am gemeinsamen Schultag in Gruppenarbeit dazu ein Plakat erstellt und anschließend präsentiert.

Viele haben mich schon gefragt wie ich beim dezentralen Lernen denn Physik und Chemie lernen kann. In einem Term der DBIS hatten wir z.B. Mikroskopie. Durch ein Mikroskop haben wir uns Zellen angeschaut. Ein anderes Mal war das Thema die Periodische Tabelle und Atome. Mittels gewöhnlicher Utensilien, die man so in der Küche hat, habe ich z.B. von einer Erdbeere die DNA isoliert.

An der örtlichen Musikschule hatte ich Klavierunterricht, Querflötenunterricht, und habe einige Jahre in einem Querflötenorchester mitgespielt. Aktuell nehme ich Gesangsunterricht und singe in einem Drei-Generationen-Chor der Musikschule.

Über die Wintermonate hatte ich Schwimmtraining bei der DLRG, dort lernte ich, Menschen aus dem Wasser zu retten. Zuletzt habe ich das Rettungsschwimmabzeichen in Silber absolviert. Zu diesem Rettungsschwimmabzeichen gehörte auch ein Erste-Hilfe-Kurs. Drei Jahre lang hatte ich Reitstunden, jetzt gehe ich hauptsächlich mit unserem Haflinger im Gelände reiten. Mit meiner Familie und Freunden spiele ich Fußball oder gehe Fahrrad fahren, spiele Tennis. Meine Familie und ich sind große Ski-Fans und so gehen wir im Winter gerne Skifahren.

So ungefähr sah mein persönlicher Alltag aus. Aber das kann bei den Familien in der DBIS nach Absprache mit den verantwortlichen Lernbegleitern ganz unterschiedlich sein, abhängig davon, wie die Lebenssituation der Familie ist, wie die jeweiligen Interessen und Hobbys sind usw. Jeder Mensch lernt anders, auch unter meinen Geschwistern und mir ist es recht unterschiedlich.

Ein Grund warum ich den Uracher Plan so schätze ist, dass ich viel daheim bei meiner Familie sein konnte. Wir machten viel zusammen und nahmen z.B. jede Mahlzeit gemeinsam ein. Am Mittagstisch wurde erzählt, oder über Politik diskutiert.

Das dezentrale Lernen ermöglichte mir auch, meine Zeit flexibel zu gestalten. Ich durfte viel selbst bestimmen und planen; war auf weiten Strecken mein eigener „Boss“. Da ich keine „Hausaufgaben” hatte und nach meinem eigenen Tempo lernen konnte, brauchte ich nicht so viel Zeit, um meine Schulaufgaben zu erledigen. So hatte ich mehr freie Zeit, um meinen Interessen und Hobbys nachzugehen. Durch den wöchentlichen gemeinsamen Schultag und die virtuellen Treffen auf der Internetplattform MyAcademy kam auch das gemeinsame Lernen in einer Gruppe unterschiedlichen Alters nicht zu kurz.  

Nach mehreren Praktika entschied ich mich, im Anschluss an meinen Realschulabschluss Gesundheits- und Krankenpflegerin zu werden. Doch leider wurde aus dem geplanten Ausbildungsstart im Oktober 2015 nichts. Mir war es wichtig, meine Zeit sinnvoll zu nutzen, also habe ich mich kurzerhand dazu entschlossen, die Allgemeine Hochschulreife zu erwerben. Das habe ich über eine Partnerschaft der DBIS mit einer anerkannten kanadischen e-school durch online- Kurse gemacht, so genanntes e-Learning. Diese Kurse habe ich in allen Fächern, wie z.B. Mathe, Biologie, Geschichte usw. in englischer Sprache gemacht. Englisch war in diesem Fall auf Muttersprachenniveau. Ich musste auch Aufsätze zu komplexen Themen in korrektem Englisch schreiben. Weil Englisch heute die „Weltsprache“ geworden ist, finde ich das sehr wertvoll.

Und nun mache ich meine Ausbildung als Gesundheits- und Krankenpflegerin, ein Beruf, der mir sehr gefällt. Auch in der Klassengemeinschaft fühle ich mich wohl und habe neue Freunde gewonnen. Vom mehr selbstgeplanten Lernen zurück zu finden zum herkömmlichen Schulsystem war für mich schon eine Umstellung. Ich muss sagen, die „Regelschule“ ist dabei noch genauso wie ich es noch aus der Grundschulzeit kenne –  einfach zum großen Teil langweilig und trocken. Aber ich möchte anmerken, dass sich auch manche Lehrer wirklich anstrengen, ordentlichen Unterricht zu machen. Ich merke, dass meine Klassenkameraden, was dies anbelangt, „abgestumpft“ sind, sie kennen nichts Anderes, wobei ich nicht verstehen kann, warum Unterricht so langweilig sein soll, wenn es doch auch anders geht! Man sagt in der Berufsschule sei man in der „Erwachsenenbildung“, wo man sich selbst Wissen aneignen soll –  davon sehe ich aber in der Realität nicht allzu viel.

Ich bin jedenfalls sehr froh über meine Schulbiografie. In meinem Lernstand, also in den „Kulturtechniken“ bin ich keinesfalls zurückgeblieben und habe eine breite und vor allem bunte Bildung genossen.

Insgesamt sehe ich mich privilegiert, diese Art von Bildung erhalten zu haben. Und ich profitiere davon auch in meinem Beruf.