Verhaltensprobleme sind eine Geschichte über Emotionen

In Familien, Schulen und Kindergärten klagen Eltern, Lehrer und Erzieher darüber, dass Kinder zunehmend verhaltensauffällig sind. Sie gehorchen kaum, sind zu impulsiv, zeigen keine Neugierde und fühlen sich permanent gelangweilt. Manche haben Aufmerksamkeitsdefizite, andere sind übermäßig ängstlich und es dauert nicht lange, bis eine Situation stark eskaliert. Erwachsene sind oftmals von dieser anhaltenden Krisensituation genervt und ermüdet und stehen der Situation ratlos gegenüber. Sie greifen zu Sanktionen und führen Emotionsmanagement-, Anti-Aggressions- und Anti-Mobbing-Maßnahmen ein, um Kinder und Jugendliche auf ihre Defizite aufmerksam zu machen. Der letzte Notnagel ist Ritalin, um belastende Ausbrüche einzudämmen und das Lernen zu unterstützen. Das Familienleben macht keine Freude mehr und das Lernen bleibt oftmals auf der Strecke.

Wie konnte es dazu kommen?

Kleine Kinder sind bekannt dafür, sehr emotional zu sein: Sie lachen herzhaft, im nächsten Moment fließen die Tränen, mal brüllen sie los. Sie können zärtlich, süß und entspannt sein, zwischendurch aber auch gemein und egoistisch handeln. Sie sind trotzig, wissbegierig, und auch wenn sie manchmal teilen, gelingt es ihnen jedoch nicht immer. Dieses Karussell an Emotionen ist kein Entwurfsfehler im Plan der Natur. In ihrem aktuellen Buch „Vertrauen - Spielen – Wachsen“ schreibt Deborah MacNamara: "Die Unreife von Kindern ist kein Fehler, sondern der bescheidene Anfang, an dem wir alle beginnen". Die Natur hat uns sehr großzügig mit einem riesigen Fächer an Emotionen ausgestattet, weil sie der Antrieb für unsere Entwicklung sind und uns zu Erwachsenen reifen lassen.

Wenn Kinder fürsorglich, ruhig, liebevoll, kooperativ und mitfühlend sind, sind sie den Erwachsenen willkommen. Weniger willkommen sind sie jedoch mit negativen Emotionen wie Enttäuschung, schlechter Laune, Hass, Angst, Trotz, Melancholie, Scheu, Eifersucht, Nervosität, Unvernunft und Wut, denn diese Emotionen gelten als unordentlich, unberechenbar, irrational, unbeherrscht und unpassend. Erwachsene wissen wie herausfordernd das Erwachsenenleben ist und dass im Erwachsenenleben auf Gefühle und Erwartungen von jedem Einzelnen oft nicht eingegangen werden kann. Nein, Kinder müssen abgehärtet sein, um später im Berufsleben, vor allem in Zeiten der Globalisierung, eine Chance zu haben und deswegen möchten Erwachsene aus guter Absicht Kindern baldmöglichst das geeignete Rüstzeug mitgeben, damit sie sich nicht unnötig lang in der irrationalen Welt der Emotionen aufhalten zu müssen. Erwachsene zeigen Kindern daher, dass der Ausdruck von negativen Emotionen ihnen nicht recht ist und bestrafen ihn häufig auch. Es entsteht dadurch auch ohne Worte (ein eiskalter Blick genügt) ein „Bindungsgewissen“, sozusagen ein Rahmen mit gesteckten Grenzen, die das Kind lieber nicht überschreiten sollte.

Wenn Kinder und Jugendliche diese Erfahrung machen, empfinden sie Distanz, Missgunst und Ablehnung der Erwachsenen als Trennung und sind alarmiert, weil der Kontakt und die Nähe zu ihren wichtigsten Bindungspersonen bedroht sind. Die kindlichen Emotionen können ihre Aufgabe nicht mehr erfüllen und werden verdrängt, verzerrt oder abgeflacht.

Wählen Kinder die Verdrängungsstrategie, so wirken sie in der Regel ganz normal und „pflegeleicht“. Sie haben gute Manieren, aber oft entgeht es den Erwachsenen, dass die Kinder ihre negativen Emotionen an einem anderen, für sie weniger gefährlichen Objekt ausleben, bspw. an Geschwistern, Haustieren usw.

Im Fall der „Verzerrung“ von Emotionen sind die Kinder hingegen sehr auffällig und entwickeln irrationale Ängste, bspw. vor Spinnen oder Gespenstern unter dem Bett.

Werden Emotionen hingegen betäubt (bspw. da vom Kind keinerlei Ausweichmöglichkeiten zur Entladung der negativen Gefühle mehr gesehen werden), führt die Abflachung der Emotionen zur Depression, verbunden mit einem Verlust an Vitalität und Authentizität.

Merzen Sozialisierungsmaßnahmen negative Emotionen aus, bleiben Kinder in ihrer Entwicklung stecken, denn für eine gesunde emotionale Entwicklung werden positive und negative Emotionen benötigt.


Wie könnte es anders laufen?

Kinder und Jugendliche sind von Emotionen bewegt und drücken sie aus. Es liegt in der Verantwortung des begleitenden Erwachsenen Emotionen anzunehmen, einen sicheren Raum dafür zu geben und zum Ausdruck von Emotionen zu ermutigen, ohne mit negative Folgen zu drohen.

Bindung zu einem fürsorglichen Erwachsenen fängt Kinder auf. Allzu oft werden Eltern verunsichert, weil sie in ihrer fürsorglichen Art als "bemutternd" kritisiert werden. Kinder entwickeln sich zu selbstständigen, verantwortungsvollen und sozialen Wesen. Dieses Ziel wird jedoch irrtümlicherweise oft mit dem Weg verwechselt. Auf dem Weg zur selbstständigen und reifen Persönlichkeit brauchen Kinder und Jugendliche einen Ort des Vertrauens, der Fürsorglichkeit, des Schutzes. Kinder und Jugendliche müssen in ihrer Bindung zum Elternteil sicher sein können, sich "bindungssatt" fühlen, um zu neuen Ufern auf brechen zu können. Kinder „bindungssatt“ zu machen, ist die Aufgabe der Eltern, die Reifeentwicklung erwächst daraus ganz natürlich, das Ergebnis "Erwachsen-Sein" ist die Frucht von beidem.

Für den Ausdruck von Emotionen ohne negative Folgen eignet sich Spiel am besten: ob Alarm (etwa durch Monster), Frustration (wie durch Beleidigung oder Anrempeln), Nähestreben (im Fangenspiel) oder Trennung (z. B. Tod spielen): alle aufwühlenden (sowohl positiven als auch negativen) Emotionen finden im Spiel eine Bühne. Spiel ist die ursprünglichste Lösung bei emotionalen Blockaden. Frustration als die Wurzelemotion für z.B. Wut, Scham und Schuld kann im Spiel zum Ausdruck kommen. Die „Entsorgung“, die im Spiel ohne Konsequenzen stattfinden kann, bringt Entladung, Erleichterung und ermöglicht Bewegung zum nächsten Reife-Schritt.

Wird den bewegenden Emotionen ein geschützter Rahmen für deren Ausdruck gegeben, finden Kinder Worte dafür. Und es ist gut so, denn Worte öffnen die Tür zum Bewusstsein. Erst wenn die eigenen Emotionen bewusst geworden sind, können sie gefühlt werden. Dabei sind Gefühle die Spitze des großen Emotionseisbergs. Erwachsene gehen davon aus, dass Kinder und Jugendliche ihre Emotionen grundsätzlich fühlen. Dies kann spontan passieren, jedoch nicht zwangsläufig. Das bedeutet, dass die oben genannten Maßnahmen nutzlos sind: Wie sollen Kinder ihr Verhalten korrigieren, wenn sie sich darüber nicht bewusst sind und dazu nichts fühlen? Dadurch, dass ihre negativen Gefühle unerwünscht sind und bestraft werden, „panzern“ sich die Kinder nämlich.

Wenn Gefühle da sind, können sie mit entgegengesetzten Gefühlen gemischt werden, wie z. B. die eigene Meinung äußern und die Angst vor Missfallen empfinden, etwas fragen und Sorge haben, für dumm gehalten zu werden, Trauer und Freude, Teilen und Besitzen usw. Diese Fähigkeit, Gefühle zu mischen, ist nicht erlernbar, sondern die Frucht einer gesunden emotionalen Entwicklung. Für das Mischen von Gefühlen ist jedoch eine gewisse physische Entwicklung der präfrontalen Hirnrinde notwendig und dieser Vorgang startet erst ab dem siebten Lebensjahr.

Erst wenn ein Mensch eine Dissonanz aufgrund widersprüchlicher Gefühle wahrnehmen kann, ist der sogenannte „freie Wille“ überhaupt möglich. Denn wieviel Eigenwillen kann schon ein emotional aufgebrachtes Kind aufbringen? Absolut keinen, denn es wird von seinen Emotionen getrieben. Sobald aber das Kind diese Dissonanz der in ihm wohnenden Gefühle wahrnimmt, „ist“ das Kind nicht mehr seine Gefühle, sondern es hat Gefühle. Es kann darüber reflektieren.

Erst Mischung und Reflektion ermöglichen es, Emotionen zu zügeln und erst das bringt nachhaltig das erwünschte Verhalten: Die Kinder sind gereift und haben ihr Verhalten im Griff. Sozialisierungsmaßnahmen hätten dieses Verhalten vielleicht zwar auch bewirkt, vielleicht sogar viel früher, aber nur oberflächlich, nicht nachhaltig und auf Kosten einer echten Reifeentwicklung.

Fazit

Verhaltensprobleme sind gewissermaßen nur „die Spitze eines Eisbergs“. Sie werden durch ein emotionales Problem hervorgerufen, das entsteht, wenn das Kind seine Gefühle nicht - ohne negative Folgen befürchten zu müssen - ausdrücken darf. Die Angst nicht mehr richtig und willkommen zu sein, ist für das Kind sehr alarmierend und führt zu emotionalen „Panzerungen“. Das Fühlen wird dadurch insgesamt betäubt und auch nützliche Empfindungen werden dadurch abgetötet: Das Kind sieht Gefahren und Schwierigkeiten nicht mehr und merkt nicht, wenn sein Verhalten gegenüber der Umwelt unpassend ist. Da es keinen Zugang zu seinen Gefühlen mehr hat, kann es sie auch nicht mischen, so dass es impulsiv und damit unkontrolliert handelt. Der hochgradige innere Alarm macht es dem Kind kaum möglich, sich zu konzentrieren, so dass es oft unaufmerksam wirkt. Verhaltensprobleme werden ausgelöst durch Emotionen. Die Lösung der Natur liegt im Spiel, wo der Ausdruck von Emotionen einen sicheren Rahmen hat, ohne negative Folgen, unter der Führung eines fürsorglichen Erwachsenen. 

 

(Mutter eines UP Schülers mit Fernstudium in Entwicklungsspychologie)